Stones: Damals

Wendetagebuch: 14.10.1989

Die drei vorherigen Tage wurden nachträglich geschrieben, da wir ja auch die Anlage unserer ‘Räte-ABC’s nicht am ersten Tag gezeigt bekamen. Ab jetzt sind die Notizen tatsächlich täglich entstanden.

“Heute waren wir beim Organisationsunterricht. Man zeigte uns die Räume und die sonstigen Gänge.
Danach konnten wir unsere Koffer abgeben, die dann auf dem Boden gestapelt wurden. Die kaputten Koffer konnten wir abgeben zum Reparieren. Am Nachmittag um 15:00 schloss sich die 4. Brigade mit den anderen 4 Brigaden zusammen und erfüllten eine besondere Aufgabe. Da ich in der Gruppe 22 und auch in der 4. Brigade war, machte ich auch mit. Die Auswertung wollen wir uns morgen vornehmen. Am Abend hatten wir dann noch eine Disko, die uns sehr gefiel.”

Anmerkungen:

- Ich finde, dass bei der Sache mit den Pionier-Anoraken und den kaputten Koffern etwas von der Versorgungslage durchschimmert. Normalerweise hatte jeder Pionier seine Pionierbluse und ein Halstuch. Auf den Bildern dagegen hatten die Pioniere immer noch extra Käppis (beim Bund hießen sie Schiffchen) auf dem Kopf und blaue Hosen/Röcke an, vor allem in den 80ern waren die Pionier-Anoraks beliebt. Zumindest auf den Bildern. Im Alltag hat man die nie gesehen.

- die ‘besondere Aufgabe’ war eine ‘freiwillige Tätigkeit’, die vom Pionierleiter ‘vorgeschlagen’ wurde und die zum Zweck hatte, in unserer ‘Freizeit’ das Leben unserer Mitbürger schöner und leichter zu machen. Gute Pioniere machen sowas. Die Einen wurden in die Großküche zum Kartoffelschälen und Putzen geschickt, die Anderen zum Straßefegen und ich glaube auch zur Werkstattarbeit abkommandiert. Bei letzterem bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher.. Jedenfalls hieß es, freiwillig Überstunden zu schieben. Der Hinweis auf die Auswertung zeigt, dass das Ganze nicht ohne Beobachtung ablief.

- Stichwort Disko: es gilt das Lehrsatz: junge Leute lieben Musik und Disko! Umkehrschluss: wenn man ‘gelöste und unverkrampfte Atmosphäre’ suggerieren will, dann organisiert man wöchentlich eine Disko. Als Belohnung für gute Mitarbeit gibts auch mal eine Extradisko zwischendurch. Folge: Man steht von 18-19 Uhr mit einer Limo in der Hand im Treppenhaus unter elektrischen Leuchtmitteln und lauscht den Klängen von Eurythmics und Modern Talking. In der Hinsicht war man ja weltoffen. Natürlich hat es einem total gut gefallen, auch das wusste man mit 11 schon zu berichten.

30. Oktober 2009, 12:10 von Andreas Jahn Kommentare [3]

Wendetagebuch: 11.-13.10

Was viele nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen – auch ich war in das System der DDR eingebunden und wurde schon auf große sozialistische Taten vorbereitet. Natürlich war ich noch zu jung, um eine aktive Entscheidung über meinen politischen Werdegang zu treffen, aber die Weichen waren gestellt und wer weiss schon, für welchen Fortgang meiner Biographie ich mich mit 18 entschieden hätte.

Wie es das nie mit Ironie geizende Schicksal so wollte, war ich vor zwanzig Jahren, also in den Tagen der Wende, gerade auf einem Lehrgang in der Pionierrepublik Wilhelm Pieck. In der Zeit vom 11.10.-02.11.89 sollte ich mich dort auf meine Funktionen als schulklasseninterner Agitator vorbereiten, was so in etwa einem Propaganda-Verantwortlichem entspricht. Warum es mich traf, ist mir ein Rätsel, ich vermute allerdings dass es Quotenregelungen gab, wonach aus jedem Kreis jeweils 2-3 Schüler der 5.Klasse dort hin-deligiert wurden.

In der Pionierrepublik selbst herrschte ein straffes Regiment. Die Zeilen, die ich hier wiedergeben werde, entstammen meinem ‘Räte-ABC’, also meinem dort unter Anweisung selbst angefertigten Handbuch zur späteren politischen Auseinandersetzung mit meinen Mitschülern. Darin wurden in verschiedenen Kapiteln alle relevanten Ereignisse und Informationen vermerkt, unter Anderem hatte ich darin auch ein Tagebuch zu führen, welches wöchentlich eingesammelt und begutachtet wurde. Mir war damals als 11-Jährigem schon klar, dass bei der Beurteilung der Zeilen die Rechtschreibung keine große Rolle spielen würde, weshalb die Darstellung eher Konformismus und weniger Linientreue geschuldet ist .

Hier nun, wenn auch um ein paar Tage zeitversetzt, die Banalität des sozialistischen Pionieralltags:

“Am 11.10.1989 kamen wir hier in der Pionierrepublik an. Wir gingen dann unsere Koffer suchen, die im Haus 9 gestapelt worden waren. Danach packten wir unsere Sachen aus und gingen dann essen. Am Abend wurden wir noch belehrt, wie wir uns hier zu verhalten haben.

Am 12.10.1989 wurden wir in die Bibliothek eingewiesen. Danach wurden wir mit Pionier-Anoraken eingekleidet, da die meisten keinen Mitgebracht hatten. Brigaden bildeten wir am Freitag den

13.10 1989 und waren das erste Mal beim Kurs. Um 14:00 waren wir beim Massensingen und dann noch beim Eröffnungsappell, der aber stark verkürzt wurde, weil es regnete.”

Anmerkungen:

Brigade – Die Lehrgangsteilnehmer wurden in 3 (oder 2 ?..)Hausbelegschaften unterteilt, und noch weiter, ganz unten stand die Brigade, in der 5 Leute waren und jeder eine Funktion hatte. Es gab den Brigadeleiter, den Stellv. BL., den Agitator, den Gruppenrat und einen Schriftführer. Ich wurde Stellvertretender Brigadeleiter.

Kurs – Außerschulische ‘Schul’-Stunden, die dem eigentlichen Lehrgang entsprachen.

Massensingen – riesiger Kinosaal, gefüllt mit hunderten Pionieren, die vorher kopierte Liedtexte bekommen hatten. Vorn auf einer Bühne saß ein Reinhard Mey – ähnlicher Gitarrenbarde, mit dem dann zwei Stunden lang Kampf- und Pionierlieder geübt wurden

Eröffnungsappell – Auf dem nächtlichen Sportplatz waren alle Kohorten aller Altersgruppen angetreten, umringt von Fackelträgern, bedröhnt von der hallenden Eröffnungsrede des Chefs. Bundeswehr war Kindergarten dagegen..

29. Oktober 2009, 12:40 von Andreas Jahn Kommentare

Neuere Einträge

Stones: Damals

Wendetagebuch: 14.10.1989

Wendetagebuch: 11.-13.10

Links

Kategorien

Meta