Stones: Nachruf

Nachruf

Ins Armenghetto hineingeboren, der Vater ein Säufer, schien sein Leben vorgezeichnet. Als er 8 war kam die Weltwirtschaftskrise, der Hunger wurde zum täglichen Begleiter, das Schulgeld hatte keiner mehr, durch Mangelnährung viel zu klein für sein Alter, was machte es schon für einen Unterschied, wer die Macht im Lande übernahm, als er 12 wurde. Er merkte es erst mit 14, als er zum ersten Mal in seinem Leben neue ungetragene Kleidung bekam und genug zu Essen hatte. Von diesem “Landjahr“ hat er oft erzählt, was störte es ihn, dafür Hitlerjunge werden zu müssen. Danach war es auch kein Problem mehr, eine Lehrstelle zu bekommen, ein Klempner sollte er werden. Mit 16 rutschte er bei der Arbeit in einen kochenden Waschkessel, nur der gute Wille des Arztes und die Überzeugungsarbeit der Familie rettete sein Bein vor der Amputation. Wieder genesen war er alt genug für den Arbeitsdienst. Hatte er genug Überblick, sich dem Staat zu entziehen? War es nicht seine Pflicht, für sein Land einzutreten, ein Krieg hatte doch begonnen.. Mit 19 kam er zur Armee, durch Beschiss bei der Eignungsprüfung konnte er sich bei den Funkern in der Luftwaffe einreihen. Nach allerlei Lehrgängen, Versetzungen und Umgruppierungen wartete mit 20 der Einsatz auf ihn, es ging nach Russland. Nordabschnitt. Vier Jahre lang Staub und Schnee. Und immer wieder nur durch Glück am Leben geblieben. Dann die Gefangennahme und Arbeitslager. Nochmal drei Jahre. Schließlich war er als Mitläufer gleichsam schuldig. Mit 28 kam er nach Hause. Mit 28 konnte er sich erstmalig überlegen, was er mit seinem Leben eigentlich anfangen wollte. Bisher hatte man ihm immer alles vorgeschrieben und sie wollten es wieder tun, denn er lebte in Ostdeutschland.
Aber er begann einen völlig neuen Abschnitt. Er ging zur Abendschule, er machte seine Lehre zu Ende, wurde Handwerksmeister, wurde Ehemann und Vater von drei Kindern, er gründete eine eigene Firma, er machte sein Ding und er machte es gut. Durch seine Hände Arbeit erschuf er sich eine Welt, in der er die Fäden in der Hand hielt. Während andere zehn Jahre auf ihren Trabant warteten, fuhr er Wolga, wo andere vor den Funktionären buckelten, um Urlaub in einem FDGB-Heim zu machen, mietete er von Bekannten ein Haus in den Bergen. Ihm wurde misstraut und missgönnt, ständig wollte jemand seine unsozialistische Firma dichtmachen. Er setzte sich durch. Seine Kinder sollten nicht studieren dürfen. Er fand Wege, dass sie es doch konnten. Seinen Enkeln brachte er ebenso viel Liebe entgegen wie seinen Kindern. Und er gab ihnen eine Vorstellung davon, was geistige Unabhängigkeit ist.
Mit 68 durfte er sich endlich wieder vollkommen frei in seinem eigenen Land bewegen und seinen Bruder wiedersehen. Er konnte sich nun auch mal Schweden anschauen. Für viel weiter reichte sein Elan nicht mehr. Bald begannen die Zipperlein, die Problemchen, dann kamen Krankheiten und bange Momente, aber jedes Mal rappelte er sich wieder auf. Diesmal nicht. In nur drei Monaten warf ihn ein Lebertumor nieder. Es hätte schlimmer ausgehen können.
Machs gut Opa.

3. November 2006, 11:20 von Andreas Jahn

Kommentare

Ich kannte deinen Opa nicht. Und doch ist es irgendwo der Lebensweg einer ganzen Generation. Nicht ganz, denn wie du schreibst, war dein Opa selbst im Totalitarismus der DDR ein Individuum. Ein schweres Leben. Ich denke du bist sehr stolz auf deinen Opa und er wird es auch auf dich sein.
— e-sven 3. November 2006, 14:12 #
Tja, er war wohl einer von Vielen, aber auf seine Art ein recht großer unter den kleinen Männern.
— Andreas 6. November 2006, 12:59 #
Hört sich an, als hätte der alte Herr sehr großes Vorbild-Potenzial gehabt! Ich kann das von meinem Opa gar nicht sagen, da er bereits starb, als ich 13 war und wir seitdem nicht sehr viel über sein Leben gesprochen haben. Aus Mangel an Informationen bewundere ich ihn zumindest dafür, dass er es so lange mit meiner Oma ausgehalten hat.
— Henny 7. November 2006, 11:15 #

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