Stones: Wendetagebuch: 19.+ 20.10.1989

Wendetagebuch: 19.+ 20.10.1989

19.10.1989

Heute wurden wir in die Hausaufgabenzeit eingewiesen. Dafür bekamen wir 1 Stunde Zeit. Danach arbeiteten wir am Pflegeobjekt.
Frauke und Ines boten am Abend eine sehr lustiges Theaterstück dar. Leider verging die Zeit so schnell.

20.10.1989

Heute waren wir wieder in der Schule. Am Nachmittag war wieder eine Gruppenratsversammlung in der wir unsere ‘Räte ABCs’ wiederbekamen, die wir gestern abgegeben hatten.
Am Abend waren wir dann im Kino und sahen uns einen sehr guten Film an.
Ich freue mich jetzt schon auf den Sonntag, weil da Elternbesuchstag ist.

Anmerkungen:

- Frauke und Ines: das waren zwei Pionierleiterinnen und die waren sogar ziemlich nett. An Ines kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Frauke wäre auch im Westen als Alternative durchgegangen. Gleichzeitig war sie aber auch für unser politisches Weltbild mitverantwortlich, wie mein Eintrag für besondere Mitarbeit im gestrigen Agitatoren-Lehrgang dokumentiert:

Trotzdem würde ich ihr sogar abnehmen wollen, dass sie die politische Arbeit am Pionier tatsächlich als aktiven Friedensbeitrag empfunden hat. Nicht umsonst war selbst bei ihren Initialen die Friedenstaube immer mit dabei:

Doch es gab auch andere. Eine von den Pileis lief außer mit einem herrischen Gesichtsausdruck auch mit Kampfstiefeln, grünem Make-Up und einer Jacke rum, die ich heute als grüne Bomberjacke beschreiben würde. Ich habe absolut keine Ahnung, wie das ging.

- Pflegeobjekt: hatte ich schon erwähnt, dass jede Brigade für ein Pflegeobjekt verantwortlich war? Unseres war die eine Hälfte des Hausumfelds, wo es eine Strasse zu fegen gab, das Laub vom Gras geharkt werden musste, eventuell auftretender Müll (wir hatten ja nichts..) zu entsorgen war und überhaupt alles seine Ordnung haben sollte. Dies ist natürlich zu unterscheiden von der ‘Stunde der Ordnung und Sauberkeit’, wo man sich der Innenraumpflege widmete..

- Die Hausaufgabenzeit war toll. Die Aufgaben waren nach 20 Minuten hingeschludert und dann konnte man sich ganz ungezwungen ein Buch nehmen und in gemäßigter Lautstärke Konversation betreiben. Und das im eigenen Zimmer und völlig unbeaufsichtigt! (Natürlich kein Einzelzimmer, wir waren zu sechst)

- unsere Räte-ABCs wiederbekamen.. vom Korrekturlesen..

- Elternbesuchstag: Also das kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich mich selbst nach dem ersten Ferienlager mit 7 nicht so gefreut habe, meine Eltern wiederzusehen.

- Vielleicht bin ich in dem Punkt etwas übersensibel, aber ich finde meine Formulierungen ziemlich hirngewaschen. Dabei war ich nie überzeugter Pionier, mein Opa hat mir schon früh deutlich gemacht, dass das im Osten alles Quatsch ist. Aber angepasst war ich trotzdem. Ich kannte ja nichts anderes.

Da muß ich an gestern denken, als bei ‘Hart aber fair’ ein westdeutscher Historiker sich darüber ereiferte, dass die anwesenden Ex-DDR-Bewohner die Mauer nicht permanent als Gefängniswand vor ihrer Nase empfunden hätten. Mit solchen Aussagen würde man den Unrechtsstaat relativieren.

Ich kann dazu nur meine eigene kindliche Sicht beschreiben. Wenn man am Meer wohnt und weiß, dass hinter dem Horizont das gelobte Land ist, dann ist man natürlich begierig, es mit eigenen Augen zu sehen. Aber wer käme auf die Idee das Meer abzureißen oder es sonstwie wegzuzaubern. Es ist einfach da und man kann es nicht ändern, es ist wie eine Naturkonstante. Und so denkt man auch nicht mehr darüber nach, man lebt und denkt auf seiner Seite des großen Wassers.

5. November 2009, 22:44 von Andreas Jahn

Kommentare

Ich finde das alles unglaublich spannend. Schade, dass ich damals kein Tagebuch geführt habe, dann hätte man mal transzonal vergleichen können…
— Antenne 5. November 2009, 23:34 #
Von mir aus hätte ich das aber auch nicht gemacht. Ich habe später mal probiert, ein Tagebuch anzufangen und habe schon auf der ersten Seite aufgegeben, weil ich meine ehrliche eigene Sicht auf mich selbst recht abschreckend fand. Während meiner Diplomkartierung habe ich’s dann doch gemacht, doch da hat es sich von allein entwickelt, um so etwas Dampf ablassen zu können.

Im Übrigen finde ich es spannend, dass Du mit meinem Geschreibsel was anfangen kannst, weil ich mir nicht sicher war, ob man mit so knappen Beschreibungen einen Zugang zu der damaligen Welt vermitteln kann.
— Andreas 6. November 2009, 11:12 #

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