Stones: article

Wendetagebuch: 18.10.1989

Heute am Mittwoch waren wir wieder beim Kurs. Außerdem waren wir beim Massensingen.
In der Aktuellen Kamera erfuhren wir von dem Rücktritt Erich Honeckers. Als Nachfolger wurde Egon Krenz vorgeschlagen.
In Kalifornien wurde ein schweres Erdbeben registriert. San Francisco wurde von ihm schwer erschüttert. Es soll insgesamt ein Sachschaden von über einer Milliarde Dollar entstanden sein. Bis jetzt sind nach Schätzungen über 300 Menschen gestorben. In dem 150km entfernten Los Angeles schwankten die Wolkenkratzer. Es wurden über hundert Nachbeben registriert.

Anmerkungen:

- Kurs und Massensingen: Mittwochs stand die politische Festigung im Vordergrund

- Der Wechsel: an jenem Abend wurden wir ohne große Ankündigung vor den Fernseher gesetzt und da hieß es dann, dass Egon der neue Erich wird. Seltsamerweise hat mich das ziemlich kalt gelassen. Andererseits habe ich auch viel später erst was von Montagsdemos und Polizeiprügeleien gehört

- Und dann war da noch das Erdbeben. Die Zeilenzahl zeigt klar die Relevanz der Ereignisse.. Ich frage mich auch, was wohl noch einen Monat früher meine Tagebuch-Koautoren zu dieser Gewichtung gesagt hätten.

4. November 2009, 22:30 von Andreas Jahn Kommentare

Wendetagebuch: 17.10.1989

“Heute fuhren wir mit dem Bus nach Eberswalde. Wir haben noch Esspakete mitbekommen. Zuerst waren wir im Sägewerk. Dort konnten wir sehen, wie aus dem Baumstamm ein Brett wurde. Der Riesengabelstabler, den wir dort sahen (750.000M), konnte mit einem Mal bis zu 20 Stämme transportieren.
Danach fuhren wir nach Eberswalde in den Tierpark. Dort sahen viele Tierarten wie zum Beispiel Löwen, Tiger, Leoparden, Panther, Wapitis, Wiesente, Waschbären, Elche und Braunbären.
Am Abend gingen wir dann zu einem Lagerfeuer, wo die tschechischen Pioniere ein sehr gutes Programm darboten.”

Anmerkungen:

- Der Gabelstabler war echt was Besonderes, denn er kam aus dem Westen. Für Kinder wie uns, die sonst nur den W 50 kannten, hatte das exotisch moderne Design eine unglaubliche Faszination

- 750.000 M! Wahrscheinlich sogar West-Mark! Das klingt heute lächerlich, aber das war für mich utopisch viel Geld. In unserem “Räte-ABC” mussten wir auch über unsere Finanzen Buch führen und aus den Aufzeichnung geht klar hervor, dass ich innerhalb von vier Wochen etwa 15 Mark (Ost) für Süßigkeiten, Limos, Postkarten, Schreibwaren und alles Andere ausgegeben habe. Mein erstes Taschengeld lag bei 1 Mark in der Woche! Bei den Wechselkursen hätte mich schon damals im Westen jeder belächelt. Aber damals kam auch noch die Streuselschnecke zu 10 Pfennigen .. und der Pfannkuchen zu 35 Pfennigen. Um matthi zu zitieren: ‘es war nicht alles schlecht..’

- Stichwort Tierpark: habe ich die Tiere wirklich alle gesehen? In Eberswalde? Aber warum sollte ich mir sowas ausdenken? Zu meinem Erstaunen bestätigt Wiki meine Erinnerungen.

- wo die tschechischen Pioniere ein sehr gutes Programm darboten.. Hie und da fällt mir mein schwülstiger Schreibstil auf. A. meint, dass ich auch heute noch so gestelzt meine Glückwunschkarten etc. schreiben würde. Ich schiebe das mal auf meine spießbürgerliche Sozialisiation in einem zur leeren Phrase erstarrten gesellschaftlichen Umfeld.
Übrigens waren da nicht nur tschechische Pioniere sondern Kinder mit allen möglichen Hautfarben. Die Kommunikation war allerdings unmöglich. Hier hätte ich mal Russisch gebrauchen können.

2. November 2009, 21:52 von Andreas Jahn Kommentare

Völlig blockiert

Immer wenn ich hier was Schreiben möchte, muß ich seit ein paar Wochen sofort an die gelben Juniorpartner in der Regierung denken und schon fällt mir überhaupt nichts anderes mehr ein. Das nervt. Blöderweise nicht ohne Grund. Als ich gestern bei Anne Will einen von denen über die Zukunft der Sozialsysteme schwadronieren hörte “wir sind ja nicht mehr im 19.Jahrhundert, wir müssen uns an neue Gegebenheiten anpassen”, da gingen mir zwei Sachen durch den Kopf:

1. Das ist mal wieder völliger Humbug, das Rentensystem begann mit einem Ansparmodell, wo man seine eigenen Beiträge zurück bekam. Das ging logischerweise mit der Inflation zugrunde und daher wurde unser heutiges Umlagefinanziertes Modell eingerichtet. Sprich: wir zahlen für die heutigen Rentner, die zukünftigen Löhner zahlen dann für uns. Schwarz-Gelb will in allen Bereichen die Eigenverantwortung stärken und formt das System wieder dahin zurück, wie es zu Bismarcks Zeiten war. Im Grunde wird die Floskel von den angeblichen ‘Zuständen wie im 19.Jh.’ benutzt, um uns genau dahin zu führen. Als rhetorischer Kniff hätte es einen gewissen ironischen Witz, würden wir als Für-den-Lebensabend-Sparer nicht das Inflationsrisiko tragen, während die Regierungen, und zwar nicht nur die aktuelle, die Staatsverschuldung hochjagen.

2. Das gestern vorgetragene Menschenbild der FDP ist das vom verantwortungsbewußten, sich selbst organisierenden Menschen. Klingt toll. Das sind die selben Menschen, die sie gewählt haben. Wenn nun die FDP Kopfpauschalen und eine individualisierte Altersverorgung will, dann beweist doch der Wähler, dass es diesen verantwortungsvoll zukunftsplanenden Menschen gar nicht gibt. Oder dass die FDP nur für die Minderheit von Profiteuren einer Systemänderung gute Politik macht. Dann hätten sie aber in einer Volksvertretung nichts zu suchen. Und wenn es eine den Namen verdienende Linke gäbe, wären sie da nie gelandet.

2. November 2009, 10:47 von Andreas Jahn Kommentare

Wendetagebuch: 16.10.1989

Heute waren wir zum ersten Mal beim richtigen Unterricht in der Schule. In den 6 Stunden, die wir heute hatten, bekamen wir schon unsere Bücher von Geo, Ru, Deu, Bio, Ges und Ph.
Nach dem Unterricht schmeckte das Essen besonders gut, obwohl ich Tischdienst war. Beim Mittag sah ich dann meine Pilei aus Jüterbog wieder, da sie heute nachgekommen war. Am Nachmittag hatten wir dann die Gruppenratswahl, in der die Brigade 3 ein Programm vorführte.

- Die Schule war ziemlich chic, ein Plattenbauklotz zwar, aber dafür recht hell und mit einem großen Aquarium im zentralen Treppenhaus. Darin schwammen leider nur Fische aus dem anliegenden Werbellinsee, aber cool war das trotzdem.

- Der Tischdienst sollte im Speiseraum für Ordnung sorgen, vergessenes Geschirr wegräumen und hinterher die Tische wischen. Gibt es sowas in den heutigen Schulen überhaupt noch? Heutzutage bekommen die Bälger doch alles hinterhergetrag..

- Pilei: das ist nicht altgriechisch, sondern steht für Pionierleiter. Die gehörten ja damals immer mit zur Schule und ihre Anwesenheit war völlig normal, ebenso wir ihr Einfluß auf Beurteilung und damit Werdegang eines jeden Kindes. Gleichzeitig waren sie eine Art Nachwuchs-Politoffizier. Ich war jedenfalls in meine Pionierleiterin ein wenig verschossen und habe ihr ein paar Wochen später Muschelschalen aus dem See geschenkt. Man, muss die sich gefreut haben!

- Gruppenratswahl: wie kann man besser Demokratie und Mitbestimmung leben, als ständig Gremien und Ausschüsse zu bilden? Normalerweise brachte die Mitgliedsschaft in einem Gremium zwar keine Macht mit sich, dafür aber die Verantwortung, dass unterhalb dieser Ebene alles seine sozialistische Ordnung hatte.

31. Oktober 2009, 19:06 von Andreas Jahn Kommentare [3]

Wendetagebuch: 15.10.1989

Heute haben wir am Vormittag fast gar nichts getan.
Dafür haben wir danach eine Reise ins Land der Märchen unternommen. Wir bekamen Lose, in denen Märchennamen waren. Jede Brigade bekam ein Los und sollte ein Teil aus dem Märchen modern umgestaltet vorspielen. Das war gar nicht so einfach, denn unsere Brigade hatte das Märchen “Brüderlein und Schwesterlein.” Zum Schluss spielte jede Brigade ihr Stück vor. Das war sehr lustig. Unser Stück bekam auch sehr viel Beifall.

Anmerkungen:

- den ganzen Vormittag nichts gemacht? Ich habe nachgesehen, der 15. war ein Sonntag. Das heisst, dass außer Wecken um 8:00, Frühsport und gemeinsamem Frühstück, nebst Marsch zur Kantine und zurück, tatsächlich nichts anstand.

- Sonntags kam zum Wecken aus der Hauslautsprecheranlage ein Hahnenschrei, sonst war es, wenn ich mich recht erinnere, ein Trompetensignal. Im Übrigen war es ja normal, um 7:00 in der Schule zu sein, demnach war das Wecken unter der Woche wohl vermutlich um 6..

- Brüderlein und Schwesterlein: früh übt sich, wer ein Kulturschaffender werden will. Ich weiss noch, dass ich die Sache damals schon blöd fand.

- Das Losverfahren: das ist schlimmer formuliert, als es war. Wir durften das Los immerhin selbst ziehen.

31. Oktober 2009, 18:32 von Andreas Jahn Kommentare

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